Hat Platon Jesus prophezeit? – Eine kritische Widerlegung

Die Vorstellung, Platon habe Jesus Christus prophezeit, wirkt faszinierend. Besonders oft wird eine Stelle aus der Politeia (Der Staat) zitiert, in der ein „vollkommen Gerechter“ beschrieben wird, der gegeißelt, gefoltert und schließlich gekreuzigt wird. Christliche Leser sehen hier eine erstaunliche Parallele zum Leiden Jesu. Doch diese Ähnlichkeit ist keine echte Prophetie, sondern lässt sich durch archetypische Denkfiguren und spätere Deutungen erklären.


1. Historischer Abstand und Kontext

Platon lebte von ca. 427–347 v. Chr., Jesus von Nazareth wurde etwa 4 v. Chr. geboren und um das Jahr 30 n. Chr. gekreuzigt. Zwischen den beiden liegen über 350 Jahre. Platon war kein Prophet, sondern ein griechischer Philosoph, der keinen Zugang zu jüdischen messianischen Traditionen hatte, geschweige denn Kenntnis von einem kommenden Christus.

Quelle: Platon, Politeia (Der Staat), Buch II, 361e–362a
Griechisch (Original):
„… τύπτειν τε αὐτὸν καὶ βασανίζειν, δεσμοῖς γε περιάψαντας, ἐκκαυθῆναι αὐτοῦ τοὺς ὀφθαλμούς, καὶ τελευτῆσαι πάσχοντα πάντα κακὰ ἀνασκολοπισθῆναι…“
Übersetzung (Zitation nach Schleiermacher):
„… er wird gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt, ihm werden die Augen ausgebrannt, und nachdem er alles erlitten hat, wird er gekreuzigt (wörtlich: ans Holz geschlagen).“

Diese Beschreibung dient nicht einer Vorhersage, sondern ist ein philosophisches Gedankenexperiment: Was geschieht mit einem vollkommen gerechten Menschen in einer ungerechten Gesellschaft?


2. Platonische Absicht: Ein moralisches Experiment

Sokrates, der in Platons Dialog spricht, stellt die Frage: Würde der Gerechte auch dann gerecht bleiben, wenn er nichts dafür gewinnt, sondern im Gegenteil leidet? Der Gedanke dahinter ist: Wird Gerechtigkeit um ihrer selbst willen angestrebt – auch ohne äußere Belohnung?

Platon, Politeia 361c:
„Er sei gerecht, aber gelte bei allen für ungerecht.“

Ziel: Gerechtigkeit vom Ruf und Lohn zu trennen. Es handelt sich um eine ethische Grenzbetrachtung, nicht um eine Biografie.


3. Jesus als Archetyp des leidenden Gerechten

Die Parallelen zu Jesus – dem „Lamm Gottes“, das ohne Schuld leidet (Johannes 1,29) – sind auffällig. In der Bibel heißt es:

Jesaja 53,5 (alttestamentliche Prophetie):
„Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen.“

Matthäus 27,26:
„… Jesus wurde gegeißelt und zur Kreuzigung ausgeliefert.“

Das zeigt: Der Gedanke eines leidenden Gerechten ist auch im Judentum verankert – und wurde im Christentum auf Jesus gedeutet. Aber die Übereinstimmung mit Platons Text erklärt sich nicht durch prophetische Schau, sondern durch den universellen Archetyp, den der Psychologe Carl Gustav Jung so beschreibt:

C. G. Jung, Archetypen und kollektives Unbewusstes (1934/1954):
„Der Archetyp ist eine dem Menschen gemeinsame psychische Grundform, die immer wieder in Religion, Märchen, Träumen und Mythen erscheint.“

Der „Opfernde“, der „Erlöser“, der „Gerechte, der leidet“ – all das sind kollektive Bilder, die unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen auftreten.


4. Spätere christliche Vereinnahmung

Frühe Christen, vor allem im 2.–4. Jahrhundert, wollten zeigen, dass auch die griechische Philosophie auf Christus hingewiesen habe. Clemens von Alexandria schrieb:

Clemens (Stromateis I,5):
„Philosophie war für die Griechen das, was das Gesetz für die Juden war: ein Weg zu Christus.“

Auch Augustinus sah in Platon einen „Christen vor Christus“. Doch dies ist eine theologische Auslegung, keine objektive Feststellung. Platon meinte mit seinem „Gerechten“ kein konkretes Individuum, sondern ein philosophisches Ideal.


Fazit mit Quellenbezug

Platon hat Jesus nicht prophezeit, sondern in einem ethischen Gedankenexperiment das Leid eines vollkommen gerechten Menschen durchgespielt. Die Kreuzigung dient dabei als Sinnbild für das äußerste Unrecht. Die Parallelen zu Jesus Christus sind beeindruckend, aber sie beruhen auf archetypischen Mustern menschlicher Erfahrung, nicht auf historischer Voraussicht. Die Interpretation als „Prophezeiung“ ist nachträglich christlich gedeutet und entspricht nicht Platons ursprünglicher Absicht.


Quellenverzeichnis (Auswahl)

  1. Platon, Politeia, Buch II, 361e–362a
    Griechisch-Deutsch: Platon – Der Staat, übers. v. Friedrich Schleiermacher, Reclam, Stuttgart.
  2. Die Bibel (Luther- oder Elberfelder-Übersetzung)
    – Jesaja 53
    – Johannes 1,29
    – Matthäus 27
  3. C. G. Jung, Archetypen und kollektives Unbewusstes
    – Gesammelte Werke, Band 9, Teil 1, Patmos Verlag / Walter-Verlag.
  4. Clemens von Alexandria, Stromateis I,5
    – In: Die griechischen christlichen Schriftsteller, hrsg. v. Otto Stählin.
  5. Augustinus, De civitate Dei (Vom Gottesstaat), Buch VIII.

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