Zwischen Glaube und Gehirn – Eine kritische Betrachtung der Neurotheologie nach Andrew Newberg

Einleitung
Die Verbindung von Neurowissenschaft und Religion wirkt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch. Die sogenannte Neurotheologie versucht jedoch genau das: die spirituelle Erfahrung mit den Mitteln der Hirnforschung zu untersuchen. Einer ihrer prominentesten Vertreter ist der amerikanische Neurowissenschaftler Andrew B. Newberg. Seine Studien zu religiösen Erfahrungen, Gebet und Meditation haben weltweit Aufsehen erregt. Doch wie tragfähig ist dieser Ansatz? Dieses Essay setzt sich kritisch mit Newbergs Arbeiten auseinander, diskutiert Einwände und fragt nach der wissenschaftlichen Relevanz seines Denkens.


1. Die Grundannahmen der Neurotheologie
Newberg geht davon aus, dass spirituelle Erfahrungen reale neuronale Korrelate haben, also messbare Prozesse im Gehirn auslösen. Mithilfe bildgebender Verfahren (z. B. funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT, oder Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie, SPECT) untersucht er, welche Hirnregionen während Gebet, Meditation oder mystischer Zustände aktiviert sind. So fand er etwa eine erhöhte Aktivierung des Frontallappens (Konzentration) und eine reduzierte Aktivität im Parietallappen (Raum-Ich-Gefühl) bei betenden Nonnen oder meditierenden Mönchen (Newberg et al., 2001). Daraus schließt Newberg, dass spirituelle Erfahrungen neurobiologisch fundierte Zustände sind.


2. Stärken des Ansatzes
Newbergs Verdienst liegt in der Öffnung der Neurowissenschaft für spirituelle Themen, die lange als unwissenschaftlich galten. Er zeigt, dass subjektive Erfahrungen wie Gebet oder Gotteserfahrungen empirisch untersucht werden können. Seine Studien liefern Hinweise darauf, dass religiöse Praxis nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch wirksam ist – etwa durch Stressabbau, emotionale Regulation und Neuroplastizität (Newberg, 2010). Die Neurotheologie kann somit als interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verstanden werden.


3. Kritikpunkte und wissenschaftliche Gegenpositionen

  1. Methodische Schwächen: Viele Studien arbeiten mit kleinen, selektiven Stichproben (z. B. buddhistische Mönche), was die externe Validität einschränkt (Pinker, 2002).
  2. Reduktionismus: Die Reduktion spiritueller Erfahrungen auf neuronale Prozesse wird insbesondere von Philosophen und Religionswissenschaftlern als problematisch angesehen. Bellah (2011) warnt vor einem Verlust der kulturellen und symbolischen Tiefe von Religion.
  3. Korrelation statt Kausalität: Der Nachweis von Hirnaktivität bedeutet nicht, dass das Gehirn die Ursache der spirituellen Erfahrung ist. Pinker (2002) betont, dass neuronale Aktivierung nicht automatisch metaphysische Aussagen legitimiert.
  4. Begriffliche Unschärfen: Begriffe wie „Gott“, „Erleuchtung“ oder „Transzendenz“ sind schwer operationalisierbar und entziehen sich einer rein empirischen Erfassung.

4. Antworten der Neurotheologie
Newberg und andere Vertreter verteidigen ihren Ansatz mit dem Hinweis, dass es ihnen nicht um metaphysische Aussagen gehe, sondern um die Beschreibung erlebter Realität. Spirituelle Erfahrungen seien reale psychophysische Zustände, deren Untersuchung Aufschluss über das menschliche Bewusstsein geben könne. Die Neurotheologie beansprucht keine religiöse Wahrheit, sondern eine wissenschaftliche Beschreibung dessen, was im Gehirn passiert, wenn Menschen glauben oder beten (Newberg, 2010).


5. Fazit
Andrew Newbergs Neurotheologie ist ein faszinierender, aber umstrittener Versuch, das spirituelle Erleben mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erfassen. Ihre Stärke liegt in der Öffnung der empirischen Forschung für bislang vernachlässigte Bereiche menschlicher Erfahrung. Gleichzeitig steht sie vor grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Herausforderungen: Wo verläuft die Grenze zwischen Beschreibung und Deutung? Kann man das „Heilige“ messen? Newbergs Arbeiten liefern wichtige Impulse, doch sie sollten kritisch, interdisziplinär und kontextsensibel weitergedacht werden – im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen, zwischen Gehirn und Geist.

Ein weiterer Aspekt, der im Kontext der Neurotheologie relevant ist, betrifft die klassische Frage nach Gottesbeweisen. Newbergs Forschung liefert keine ontologischen oder metaphysischen Beweise für die Existenz Gottes, sondern lediglich empirische Daten über die neuronale Basis spiritueller Erfahrungen. Diese können als Indizien dafür gelten, dass der Glaube tief im menschlichen Gehirn verankert ist, nicht jedoch als Beweis dafür, dass es ein transzendentes Wesen tatsächlich gibt. Vielmehr verschiebt sich die Diskussion von einem objektiven Gottesbeweis hin zu einer phänomenologischen Analyse religiöser Erfahrung. Die Neurotheologie zeigt, wie Menschen Gott erleben – nicht, ob Gott objektiv existiert. Damit liefert sie keine klassischen Gottesbeweise, sondern erweitert die erkenntnistheoretische Perspektive auf Religion um eine naturwissenschaftliche Dimension.


Literaturverzeichnis

  • Bellah, R. N. (2011). Religion in Human Evolution: From the Paleolithic to the Axial Age. Harvard University Press.
  • Metzinger, T. (2010). Spiritualität und Bewusstsein. In: Der ethische Horizont. Suhrkamp.
  • Newberg, A., d’Aquili, E., & Rause, V. (2001). Why God Won’t Go Away: Brain Science and the Biology of Belief. Ballantine Books.
  • Newberg, A. (2010). Principles of Neurotheology. Ashgate.
  • Pinker, S. (2002). The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature. Penguin Books.

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